Dorfgedächtnis, Ein „fast” tödliches Vergnügen

Ein „fast” tödliches Vergnügen
– Kindheitserinnerungen von Reinhold Geiling –

Kurz nach Ostern 1945 zog der Großteil der amerikanischen Soldaten, die Großenlüder besetzt hatten, auch schon wieder weiter. Zurück blieben eine Unmenge an Munition, Benzinkanister, Schrott und endlose Fernmeldekabel, über die man überall im Ort stolperte. Mit ihrer Hilfe hatten die Amerikaner ganz Großenlüder ‚vernetzt‘, um jederzeit miteinander kommunizieren zu können.
Für die Kinder und Jugendlichen blieb nach Ostern die Schule geschlossen und der Unterricht sollte erst im Herbst wieder neu gestartet werden. Also hatte man viel Zeit, wenn man natürlich auch regelmäßig zu Hause helfen musste. In jedem Fall stromerte man durch Wald und Feld, suchte Altmetall und Munition und spielte gefährliche Spiele, die für nicht wenige Jugendliche Verletzungen zur Folge hatten und die – bekanntermaßen – Helmut Schlitzer mit seinem Tod zu bezahlen hatte.
Auch Reinhold und seine Freunde waren in diesem Sommer häufig unterwegs. „Nur, dass ich heute noch lebe, dazu
brauchte ich damals besonderen Schutz von ganz oben“, fängt Reinhold seine Erzählung an. Wer die Idee mit dem
Drachenbau gehabt hatte, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Jedenfalls hatten sie tagelang Fernmeldekabel ‚organisiert‘, die sie als Drachenschnüre verwenden wollten. Dann besorgten sie sich Kalktüten im Kalkwerk Meister.
Tapetenleisten wurden für den Rahmen gebraucht und Mehlkleister diente als Leim. Der Zusammenbau an sich klappte auch hervorragend. Leider ließen die Drachen sich im Dorf einfach nicht zum Fliegen bringen. Wegen der besseren Windbedingungen entschlossen sich die Jungs irgendwann, zum „Hohle Berg“ zu gehen, und dort lief alles wie von selbst. Für Reinhold indes sollte es nur ein kurzes Vergnügen werden, denn niemand hatte an die Hochspannungsleitung gedacht, die vom Umspannhäuschen in der Lauterbacher Straße über den „Hohle Berg“ zum Kalkwerk führte. „Ich sah gerade noch, wie sich meine Kabelschnüre der Hochspannungsleitung näherte – dann tat es einen Schlag und mir wurde schwarz vor Augen“, erinnert sich Reinhold. „Den Schlag wollten übrigens Leute bis im Dorf gehört haben.“
Als der Junge schließlich wieder halbwegs zu sich kam, waren seine Freunde längst in wilder Panik abgehauen. „Lohm-Möllesch“ Monika, die in der Nähe auf einem Feld gearbeitet hatte, leistete erste Hilfe und schaffte ihn irgendwie nach Hause. Er hatte enorme Schmerzen und starke Verbrennungen an Brust, Rücken und Händen davongetragen. Schwester Dula aus dem Schwesternhaus am Fronhof kam in der Folgezeit über fast vier Monate zu ihm nach Hause, um die Wunden täglich frisch zu verbinden. Das Herumstromern hatte so für Reinhold ein frühes Ende gefunden. Das einzig Gute war, dass er auf diese Weise noch länger schulfrei hatte als seine Freunde.

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