Dorfgedächtnis – „Der Flüchtlingsbürgermeister“

„Der Flüchtlingsbürgermeister“ oder „Dos konnste ons net ohgedoh!“
Nach den Kindheitserinnerungen von Anneliese Schmutzer, geb. Krönung –

Als Wilhelm Krönung 1945 die Amtsgeschäfte übernahm, standen der Gemeinde turbulente Zeiten bevor. Der Krieg
war zum Glück vorbei, aber viele Städte waren ausgebombt und Not und Elend herrschten überall – auch auf dem flachen Land. Ungünstigere Voraussetzungen für die Aufnahme von Heimatvertriebenen konnte man sich kaum vorstellen. Dennoch musste diese Aufgabe bewerkstelligt werden…
Die ersten saßen eines Tages, genauer gesagt am 26. Februar 1945, bei „Hannätches“ auf der Treppe und warteten
darauf, dass Bürgermeister Krönung ihnen Zimmer zuwies. Eine sehr unangenehme Aufgabe, wie man sich unschwer vorstellen kann. Zwar wurde in mancher Familie wie selbstverständlich zusammengerückt und den Neuankömmlingen Obdach geboten. Das war aber beileibe nicht die Regel. Häufig traf Krönung auf erbitterten Widerstand. „Dos konnste ons net ogedoh!“ oder „De Zichhiener nahme mer net.“ und Ähnliches war zu hören. Selbst Pfarrer Ruez wurde eingespannt, um auf seine „Schäfchen“ einzuwirken. Trotzdem wurden Zimmer zugemauert, hier und da die aufzunehmenden Familien angepöbelt, nicht eingelassen und zurückgeschickt, sodass sie in ihrer Verzweiflung erneut beim Bürgermeister vorstellig werden mussten, um sich woandershin zuweisen zu lassen. Krönung wurde zunehmend angefeindet und war bald über die Ortsgrenzen hinaus als „Flüchtlingsbürgermeister“ bekannt. Zugleich argwöhnte man, er würde alles zu seinem eigenen Vorteil zu nutzen wissen. Dementsprechend versuchten nicht wenige Landwirte, ihn mit Cervelatwürsten, Schinken, Mehl und anderen Lebensmittelgaben zu bestechen. „Selbst eine Gans hatten sie uns gebracht. Mit Tränen in den Augen – wir hatten ja selbst nichts – musste ich alles zurückbringen“, erinnert sich Anneliese Schmutzer, Krönungs Tochter. „Dabei waren die meisten gar nicht bereit, die Sachen ohne Weiteres zurückzunehmen.“ Sie wollten schließlich verschont bleiben – „vo de Freme“.
Zudem gab es Probleme mit „Flüchtlingen“, die auf eigene Faust unterwegs waren und auf der Durchreise in Großenlüder übernachten mussten. Ihnen gab Krönung oft fünf Mark aus eigener Tasche für die Übernachtung und schickte sie zu Ruhls („Reise“) …
Dabei war zum damaligen Zeitpunkt noch in keiner Weise abzusehen, dass die Eingliederung der Heimatvertriebenen sich in vielen Fällen nach wenigen Jahren nicht nur als recht unproblematisch erweisen sollte. Man wuchs vielmehr allmählich zusammen, begegnete sich in Schule, Kirche und Vereinen, es entstanden Freundschaften und Liebschaften. Irgendwann spielte es immer weniger eine Rolle, woher man stammte. Im Nachhinein betrachtet sind sich die meisten Zeitzeugen dahingehend einig, dass die Heimatvertriebenen „Kultur, Fleiß und wirtschaftliche Initiative“ mitbrachten. Bald entstanden so neue Häuser und ganze Siedlungen, viele Firmen wurden von den Neubürgern gegründet und Arbeitsplätze geschaffen. Abgesehen von den schweren Anfangsjahren hat Großenlüder – nicht nur nach Ansicht unserer Zeitzeugen – von der Zuwanderung in jeder Hinsicht profitiert.

Großenlüder in Vergangenheit und Gegenwart
Unterstützen Sie uns bitte bei unserer Arbeit! Alte Fotos und Geschichten sind wichtige Zeitzeugnisse.
Stellen Sie deshalb Ihre alten Bilder zur Verfügung und erzählen Sie uns Ihre Geschichte(n)!
Ihr Eigentum bekommen Sie selbstverständlich wieder wohlbehalten zurück.

Kultur-, Heimat- und Geschichtsverein der Gemeinde Großenlüder e.V.
Redaktion: Thomas Mohr, Tel. 06648/8544 / Michael Michel, Tel. 06648/8848
Oder jeden Montag von 10 bis 12 Uhr im Heimatmuseum, Tel. 9110350
Repro: Hubert Brähler

/ Dorfgedächtnis / Tags: ,